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© Johannes Kerschbaummayr

Interview - Sozialassistentinnen sind Brückenbildnerinnen

Ein Interview zum Thema "Frauengesundheit und Flucht" von Ulrike Repnik von der Stadt Wien

Was machen die NACHBARINNEN in Wien?

Scholten: Die NACHBARINNEN machen das, was im Namen Nachbarinnen drinsteckt: Sie suchen Leute aus ihrer Community auf, schauen, ob sie etwas brauchen, und begleiten die Familien hinein in unsere Gesellschaft.

Babiker: Ich komme aus dem Sudan und arbeite mit der arabischen Community. In unserem Dorf sind Nachbar*innen für die Nachbar*innen da. Und daher kommt unser Name. Wir begleiten die Familien kostenlos, damit die Familie auf ihren eigenen Beinen stehen kann.

Können Sie bitte die Arbeit der Sozialassistentinnen beschreiben? Warum haben sich die NACHBARINNEN für einen Peer-to-Peer-Ansatz entschieden?

Scholten: Die Arbeit besteht darin, dass aufsuchende soziale Arbeit geleistet wird, und zwar muttersprachlich. Es gibt sehr viele Einrichtungen in Wien, die fast alle Dinge abdecken. Nur die Menschen, die wir erreichen wollen, gehen dort nicht hin. Unsere Sozialassistentinnen sind die Brückenbildnerinnen dazu. Den Peer-to-Peer-Ansatz haben wir deswegen gewählt, weil Role Models, also Frauen, die eine Situation selbst schon durchgemacht haben, zeigen, dass man eine schwierige Situation gut bewältigen kann.

Babiker: Ich arbeite intensiv mit meiner arabischen Community. Diese ist orientierungslos, die Menschen wissen nicht wohin. Sie haben immer das Gefühl, dass sie fremd sind, dass es nicht ihr Land ist. Wenn ich aber hier lebe und die Sprache kann, dann wirkt das wie ein Vorbild für die Familie. Ich kann die Familie bestärken und sie informieren. Wir machen ein Case Management für jede Familie. Den Frauen wird bewusst: Wenn eine Migrantin das kann, dann kann ich das auch.

Warum wurden Sie Sozialassistentin?

Babiker: Ich habe im Sudan Business Administration studiert. Ich arbeitete in einem Büro und merkte: Das ist nicht meine Arbeit. Danach habe ich für einen Verein im Sozialbereich gearbeitet. Dort habe ich meine Kompetenz entdeckt: Ich kann Frauen motivieren, ich kann Frauen zur Selbständigkeit bringen. 2013 habe ich bei einem Bildungsfrühstück des Vereins NACHBARINNEN Christine Scholten kennengelernt und die Ausbildung zur Sozialassistentin gemacht. Ich freue mich, wenn ich sehe, dass Kinder, die ich vor zehn Jahren begleitet habe, jetzt studieren, dass die Frauen Arbeit gefunden haben. Ich liebe meine Arbeit, auch in meinem Privatleben bin ich eine Nachbarin. Durch meine Arbeit mit den NACHBARINNEN habe ich mich selber weiterentwickelt. Um ein Beispiel zu nennen: Meine älteste Tochter war in der 1. Klasse. An einem Tag hat es geregnet. Wenn es in meinem Land regnet, geht niemand in die Schule oder zur Arbeit. Daher habe ich meiner Tochter verboten, in die Schule zu gehen. Ich war damals so. Ich bin mit meinen Einstellungen, meiner Kultur gekommen und hier habe ich mich weiterentwickelt.

Die NACHBARINNEN suchen zurückgezogene bzw. isoliert lebende Frauen und Familien auf. Welche Problemlagen finden Sie vor und welche Lösungsansätze gibt es aus Ihrer Sicht?

Scholten: Wir finden Dinge vor, die woanders erlernt, anerzogen, Kultur waren. So finden wir Eltern vor, die nicht verstehen, dass Kinder in die Schule gehen müssen. Männer, die nicht verstehen, dass die Frau Deutsch lernen muss, wenn sie sich hier bewegen will. Es geht um die Stärkung der Frau. Wenn man die Frau stärkt, kommt man an die ganze Familie heran.

Babiker: Jede von uns hat eine Geschichte. Einige haben Fluchterfahrung, einige haben Probleme mit ihren Männern, andere mit der Schwiegermutter. In dieser Arbeit können wir alles thematisieren.

Scholten: Es sind dieselben Probleme, die die Frauen haben. Und viele davon sind Probleme, die ich auch hatte. Probleme mit der Schwiegermutter, Probleme mit dem Mann, der findet, dass Kindererziehung und Haushalt Frauensache sind. Die Probleme sind sehr ähnlich.

2023 feierten die NACHBARINNEN in Wien ihr zehnjähriges Jubiläum. Welche Veränderungen konnten Sie in Ihrer Arbeit in den letzten Jahren feststellen?

Scholten: Es sind viel mehr Einrichtungen geworden, es ist sehr viel entstanden. Und: Als wir begonnen haben, waren es hauptsächlich migrantische Familien, die wir begleitet haben. Jetzt sind es zur Hälfte geflohene Familien.

Babiker: Die Frauen haben erkannt: Jede Frau hat das Recht, Zeit für sich zu nehmen, Zeit mit einer Freundin zu verbringen, sie ist nicht allein zuständig für die Haushaltsarbeit. Früher sagten die Frauen: „Mein Mann und meine Kinder helfen nicht zu Hause.“ Aber „helfen“ bedeutet: Es gehört dir. Die Haushaltsarbeit gehört jedoch nicht der Frau, es ist nicht ihre Arbeit. Viele Frauen haben die Sprache gelernt, Arbeit gefunden, eine Ausbildung gemacht. Viele Kinder besuchen nun höhere Schulen oder Universitäten.

Welchen Einfluss hatten die Fluchtbewegung 2015 und der Ukrainekrieg auf Ihre Arbeit?

Scholten: Es sind viel mehr geflüchtete Familien geworden. Der Ukrainekrieg hat bislang mit uns wenig zu tun. Aber 2015 hatte einen riesigen Einfluss auf unsere Arbeit. Nicht 2015 selbst, aber nach einigen Jahren der Nicht-Integration sind das dann Familien, die die NACHBARINNEN begleiten. Und diese Familien erwischen wir jetzt. Zu Beginn ist noch der positive Spirit da. Aber nach einigen Jahren in Isolation haben sie Frust angesammelt und es ist nicht mehr viel übrig. Hier docken die Sozialassistentinnen an und versuchen die Energie und die Ressourcen wieder herauszuholen.

Babiker: Ich habe gut ausgebildete Frauen aus Syrien begleitet. In ihrem Heimatland haben sie berufliche Erfahrungen gesammelt, aber hier sind sie orientierungslos, sie wissen nicht, was sie machen sollen. Für Analphabet*innen ist es noch schwieriger, hier in Wien Fuß zu fassen, wenn es keine NACHBARINNEN gibt. Sie brauchen unsere Begleitung.

Was wünschen Sie sich für die Zukunft?

Babiker: Ich wünsche mir mehr Unterstützungsangebote für Männer. Männer sind ein Teil der Familie. Wenn ich in eine Familie komme, fragt mich jeder Vater: „Was gibt es für mich? Ich brauche Unterstützung.“ Wir begleiten die Frauen, die Frauen kommen zu unserem Elterntisch, zu unserem Bildungsfrühstück. Die Frau entwickelt sich mit uns weiter, sie versteht viele Sachen, sie versteht, wie die Community läuft, wie sie hier ihre Kinder erziehen kann. Der Mann entwickelt sich nicht weiter und ist im Geiste noch in seinem Dorf und möchte die Kinder wie in seinem Dorf erziehen. So kommen die Konflikte in die Familie.

Scholten: Es braucht Angebote, die die Männer auch annehmen können, wo sie in ihrer Community auch stolz sein können, dass sie dort hingehen. Wir brauchen Community-Arbeit für Männer aus den Communitys.

Babiker: Es gibt auch Rassismus. Ich habe meine Kinder so erzogen, dass sie verstehen, dass Österreich ihre Heimat ist. Ich selbst bin Migrantin, aber meine Kinder nicht, die sind hier geboren. Meine Kinder wurden von anderen Kindern beschimpft und haben Ungleichbehandlung von Lehrer*innen erlebt. Meine Tochter bekommt aufgrund ihrer Hautfarbe Dinge zu hören wie „du bist schmutzig“. Es muss daher vom Kindergarten an die Voraussetzung geschaffen werden, dass sich alle Kinder wohlfühlen. Mein Sohn wird ständig gefragt: „Woher kommst du? Warum sprichst du so super Deutsch?“ Ich bin Migrantin, ich habe einen Akzent, aber meine Kinder haben dies nicht. Für die Kinder ist hier ihr Land, ihre Geschichte, ihre Zukunft. Wir brauchen, dass Eltern von beiden Seiten, von Inländer*innen und von Migrant*innen, zusammenkommen und sagen „unsere Kinder“.

Scholten: Dazu kann man nur eines ganz konkret fordern: Mitbestimmung und Teilhabe. Die gibt es hier nicht. Sehr viele Menschen, die hier leben, sind nicht wahlberechtigt. Eine weitere konkrete Forderung ist die Möglichkeit des Zuverdienstes über die Mindestsicherung hinaus, für eine gewisse Zeit zumindest.

Newsbeitrag vom
17. 02. 25

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