In Wien wartet ein Mann auf dich
Yasemin ist seit 14 Jahren in Wien
Yasemin ist seit 14 Jahren in Wien. Damals in Yozgat, wo sie aufgewachsen ist, hat sie oft geträumt davon. Gute Träume und schlechte Träume, je nachdem, wie sie am Abend ins Bett gegangen ist. Sie war 13, als ihre Eltern ihr sagten, in Wien warte ein Mann auf sie, sie solle sich darauf vorbereiten, der Mutter mehr helfen um für IHN alles zu können und auch, um den Schwiegereltern, mit denen der Handel ausgemacht war, zu gefallen und den Eltern keine Schande zu machen. Jaja die Schande, dieses Wort begleitet sie, seit sie denken kann.
9 Monate später wurde in einer Riesenhalle in Wien Hochzeit gefeiert. Ercan ist 31, hinter seinem Bart steckt ein hartes Lächeln, er hat große Hände und arbeitet am Bau. Was er die restliche Zeit tut, weiß Yasemin nicht genau, sie hat auch kaum Zeit darüber nachzudenken, die Schwiegereltern wohnen in derselben Wohnung und können nicht aufhören sie herumzuschicken. Die Hochzeit ist 2 Monate her und Yasemin ist schwanger.
Sie weint jeden Tag beim Einschlafen und beim Aufwachen, Ercan ist ungeduldig, herrscht sie zunehmend an, sie solle endlich erwachsen werden, so ein Kind hätte er nie bestellt.
Yasemin bekommt 3 Kinder hintereinander, dann hört Ercan auf mit ihr zu schlafen, er ist immer seltener zu Hause und wenn er kommt, dann lässt er seine großen Hände sprechen.
Das größte Problem für Yasemin ist allerdings weder die Dominanz der Schwiegereltern noch Ercans Brutalität, nicht die Geldlosigkeit bei knappem Taschengeld oder die Einsamkeit des Eingesperrtseins, Yasemin spürt seit zwei Jahren einen Knoten in der Brust und hat Angst zu sterben. Seither erzieht sie die älteste Tochter als Mutter für die zwei Kleineren und bereitet sich aufs Sterben vor.
Diese älteste Tochter aber bricht aus diesem traditionellen Korsett aus. Sie sieht ihre Freundinnen in der Schule, beneidet sie um die Sorglosigkeit, das Spielen, die bunte und volle Freizeit und so beginnt sie zu erzählen. Sie redet von der Angst, von den Schlägen, von der schreienden Stille zu Hause. Ihre Freundinnen hören zu und erzählen es weiter, der Lehrerin und zu Hause. Die Lehrerin kennt die NACHBARINNEN und ruft sie auf den Plan.
Yasemin bekommt die Telefonnummer von Ayse und ruft sie an. Als Ayse in die Familie kommt, ordnet sie die ziemlich vertrackte Lage und macht einen Plan.
Oberste Priorität hat Yasemins Untersuchung und die Stärkung der Kinder. Dazu geht Ayse mit Yasemin zur Mammographie und zur ihrer ersten gynäkologischen Untersuchung. Nach einer zusätzlichen Untersuchung war die Gutartigkeit des Tumors klar.
Dann die Kinder: Die älteste Tochter schickt Ayse mit Freundinnen zu Einrichtungen, die junge Mädchen beraten, der Plan, die Schule zu verlassen und zu heiraten wird mit großer Erleichterung gekippt, sie blüht auf, schwankt ein wenig unsicher, findet aber zusehends Halt. Die zwei jüngeren Brüder bekommen Lernhilfe, wenn sie dafür versprechen, aufmerksam bei den nun auch geplanten Familienkonferenzen mitzutun.
Nun zu Ercan: bei der Einrichtung eines Kontos für Yasemin hat sich gezeigt, wo er die viele Zeit neben der Arbeit verbringt, er hat gespielt. Ercan, gestärkt durch seine Eltern, versucht sich den Gesprächen zu entziehen. Er versucht auch weiterhin die beiden Buben auf seine patriarchale Seite zu ziehen, die aber schon freiere Luft atmen und deutlich fröhlicher geworden sind. Ihr Lernhelfer, ein cooler Musikerbursche ist ein wunderbares Rolemodel für die Beiden und Ayse hat durch die Ansteckung der Buben mit Musikmachwunsch auch schon Plätze für die Buben bei verbündeten Einrichtungen gefunden. Im Scratchkurs im mumok sind sie auch dabei und lernen nicht nur den Umgang mit Digitalem sondern auch viele neue Freunde kennen.
Yasemin hat – gestärkt durch Ayse und der weggefallenen Todesangst nun mit Ercan folgende Vereinbarung: Er geht in ein Antigewalttraining und in eine Suchtberatung, sie bekommt die Kinderbeihilfe und ein Drittel des Gehalts auf ihr neues Konto, sie macht ab nun ihren ersten Deutschkurs und er ist in der Zeit zu Hause bei den Kindern. Die Schwiegereltern ziehen bis zum Jahresende aus.
Ercan ist bereit bei den geplanten Familienkonferenzen konstruktiv mitzutun. Für Yasemin ist Alles noch ein wenig irreal. Allein der Gedanke gesund zu sein, nachdem sie die Beerdigung schon so oft im Kopf durchgespielt hat. Fröhliche Kindergesichter, die sich um das Murren der Großeltern nicht kümmern und ein Mann, der genau weiß, wenn er nicht mittut, ist er mitsamt seinen Eltern draußen.
Aber sie hat auch viele Aufgaben. Deutsch ist eine wahnsinnig schwere Aufgabe. Sie muss lernen mit Geld umzugehen, sich in einer Stadt zu bewegen, in der sie seit 14 Jahren eingesperrt lebt, sie möchte sich in der Schule einmischen und zu den Musikstunden der Buben gehen. Sie möchte verstehen, warum ihre Tochter studieren will und wie sie dorthin kommen kann und sie möchte selbst eine Arbeit finden, sie möchte werden wie Ayse, eine Frau, die selbst bestimmt, was für sie gut ist und Wege findet, um ihre Ziele zu erreichen. Diese Wünsche und Pläne stehen im Perspektivengespräch, das die NACHBARIN immer zur Halbzeit führt. Nach dieser Reflexion geht es noch solang weiter, bis die Ziele nun selbstständig erreichbar werden.
Yasemin, es wird Dir gelingen.
Ayse, großartige Arbeit
DANKE!