Hayat brauchte einen Neustart

Hayat kam mit 14 Jahren, nach der Verheiratung mit Osman in Yozgat nach Wien. Osman lebte schon seit 7 Jahren mit seinen Eltern in Österreich, Hayat kam als Schwiegertochter dazu, war willkommen als Kraft im Haus, wie die meisten jungen Schwiegertöchter.

Heute weiß Hayat, was sie bisher als falsch erachtete, ist besser als gedacht und was sie für richtig empfand, ist komplett verkehrt. Das ist das Ergebnis des sogenannten „Perspektivengespräches“, das Firdes letzte Woche mit ihr führte. Firdes, eine NACHBARIN, ist auf Verlangen der MA11 – Kinder und Jugendschutz – in ihr Leben getreten. Hayat hat sich immer vor der MA11 gefürchtet, auch das zählt zu den unrichtigen Dingen in ihrem Leben. Von Anfang an: Hayat kam mit 14 Jahren, nach der Verheiratung mit Osman in Yozgat nach Wien. Osman lebte schon seit 7 Jahren mit seinen Eltern in Österreich, Hayat kam als Schwiegertochter dazu, war willkommen als Kraft im Haus, wie die meisten jungen Schwiegertöchter. Osman war seinen Eltern heilig. Er war, neben 6 Schwestern der einzige Sohn, das machte diesen Sonderstatus aus und Osman lebte danach. Deshalb haben seine Eltern auch die besonders hübsche und wohlerzogene Hayat für ihren Prinzen ausgesucht und bekommen. Aber dieser Prinz hatte zwei Gesichter und eine starke Faust.

Zwei Jahre schauten die Eltern weg, dann gingen sie zurück in die Türkei und ließen das Paar allein. Die eigenen Eltern gaben Hayat zu verstehen, dass es sei, wie es sei und das sei unverrückbar und schlicht zu erdulden. Tief drin vertrocknete Hayat. Obwohl Osman zu spielen begann und ihr kaum Geld zum Einkaufen blieb, liebte sie diese Abende, weil er weg war. Als Firdes in die Familie gerufen wurde, weil eine muttersprachliche Begleitung dringend nötig war, war Hayat seit 14 Jahren in Wien, konnte kein Deutsch, hatte drei Kinder und war innerlich zerrissen. Die MA11 war in die Familie gekommen, weil Osman begonnen hatte, auch die Kinder zu schlagen. Dies deshalb, weil vor allem Ayman - der Älteste - sich schützend vor seine Mutter stellte, wenn Osman zulangte. Das war nun der Zeitpunkt, zu dem Hayat endlich um Hilfe rief. Es folgte eine sehr kurze Haftstrafe für Osman und dann ein Betretungsverbot. Osman jedoch lockte seinen „großen“ Sohn und versprach Besserung. Der dreizehnjährige Ayman vermittelte und bat Hayat, seinen Vater wieder aufzunehmen. Daher will Hayat Osman eine Chance geben und versteht nicht, warum sie das nicht sofort soll und was Voraussetzungen für so eine Chance wären. Vor allem versteht sie nicht, dass Ayman einfach zu klein ist, er ist ein Kind und muss zwischen Osman, Hayat, den Geschwistern und der MA11 jonglieren, eine untragbare Situation, man sieht es dem Buben an. Firdes kennt die Situation gut, auch sie war einmal Schwiegertochter, auch sie wurde sehr jung verheiratet, sie weiß, was Chancen ergreifen heißt und weiß vor allem, wie sie Wege zu den Chancen freischaufeln lehrt und sie bietet ihre Hand an den Abzweigungen dieser Wege an.

Firdes macht mit Hayat einen Plan und vereinbart jede Woche einen kleinen Schritt auf neuen Wegen in die innere Freiheit für sich und die Kinder. Mit der MA11 vereinbart Firdes exakte Schritte für die Arbeit der Sozialarbeiterin dort und für ihre eigene Arbeit, nichts darf fehlen und nichts soll doppelt getan werden. Als Rahmen für alles weitere wird Osman zu einer Therapie geraten, er nimmt den Vorschlag an. Während der Therapie gilt weiter das Betretungsverbot. Die Kinder und Hayat bekommen eine psychologische Unterstützung, um ihre Angst vor Gewalt zu verarbeiten. So, und unter diesen Voraussetzungen geht es los, Firdes beginnt mit der Familie zu arbeiten: Als ersten Schritt meldet sich Hayat beim AMS an und bekommt einen Deutschkurs. Firdes macht mit ihr einen Tagesstrukturplan. In diesem Plan steht weit oben die fehlende Freizeitgestaltung. Die Kinder waren bisher fast ausschließlich zu Hause – wie von Gewalt betroffene Kinder oft, sind sie sehr ernsthaft, die eigenen Dinge erledigend, sich auf niemanden verlassend, im Überlebensmodus. Vor allem die Jüngste, sieben Jahre alt, machte Hayat große Sorgen. Sie sprach kaum, war sehr schlecht in der Schule und schien in sich und Träumen gefangen zu sein. Für sie wünschte sich Hayat eine Lernhelferin der NACHBARINNEN. Die LernhelferInnen des Vereins kommen nach Hause und beschäftigen sich nicht nur mit dem Lernen, sondern auch mit der gesamten Situation in Zusammenarbeit mit der jeweiligen NACHBARIN.

Nachdem alles mit einer kleinen Gegenleistung in Richtung Selbstbestimmtheit und Integration verbunden ist, wird für die Lernhilfe ein Vertrag ausgehandelt: Hayat muss jeden Tag eine Seite in einem Buch, das sie gemeinsam in der Bibliothek ausleihen gingen lesen und ihrer Tochter davon erzählen. Schon das schafft eine neue Gemeinsamkeit, sie reden, lachen und kuscheln plötzlich miteinander, aus der reservierten kleinen Tochter wird eine kleine Verbündete in Sachen Sprache. Die zwei Buben sind ganz gut in der Schule, verbringen die Freizeit aber am Handy. Sehr schnell ist klar, dass sie beide Fußball spielen wollen. Auch da hat Firdes eine schnelle Lösung. Für die vermittelte Chance, gratis in einem Fußballverein zu spielen, soll Hayat als Praktikantin in die Nähwerkstatt der NACHBARINNEN. Nach dem Ende des Deutschkurses geht sich das zeitlich aus, den Schnuppertag absolviert sie gut, alle in der Werkstatt wollen mit ihr arbeiten. Das wird ihr sehr guttun, in der Werkstatt gewöhnt man sich nicht nur ans tägliche außer Haus gehen und ans Geld verdienen, man lernt auch alles rund um die dortigen Produktionen aus upcycling Material und nimmt an den Deutsch Konversationsrunden teil. Firdes arbeitet jetzt seit 6 Wochen mit Hayat und ihren Kindern. Osman ist in Therapie und der Kontakt ist – den gesetzlichen Regelungen gemäß, solange das Betretungsverbot gilt – eingestellt. So können die Kinder und auch Hayat wieder lernen, was Vertrauen ist. Sie können sich ohne Einschränkung und unterstützt durch Firdes und die laufenden Therapien um sich selbst und umeinander kümmern. Als Firdes zum „mid-term“ Perspektivengespräch kommt, findet sie die Kinder plappernd um Hayat herumwuselnd, die nach der Werkstatt ein spätes Mittagessen kocht. Ihr lachendes Bedauern, dass es schon sehr spät sei, aber die Arbeit…wird von den Kindern mit glücklichem Lachen und einem „macht doch nichts Mama, wir sind einfach stolz auf Dich, Du bist Urgut…!“ beantwortet.

Liebe Firdes, Du hast schon viel geschafft, ein paar kleine Schritte warten noch. Beim Perspektivengespräch hat Hayat Dir gesagt, was sie schon alles verändert hat. Zwei Dinge möchte sie Dich noch bitten: sie braucht Hilfe bei der Berufswahl und Arbeitssuche oder einer Ausbildung dazu und sie bittet Dich, mit ihr daran zu arbeiten, dass sie aufhört, sich vor den Menschen der Community zu schämen. Firdes, wir wissen, dass Du ihr die Rolle des Role Models zeigen wirst.

Danke Firdes! Hayat-das Leben – ein neues Leben!

Bericht vom
20. 06. 23

Firdes Acar

NACHBARIN seit 2013 Sozialassistentin, GFK-Expertin
"Und wenn sich dann eine meiner betreuten Mütter entscheidet, Klassenvertreterin in der Schule zu werden, dann hat sich mein Aufwand gelohnt"

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